Bevor sie Lydia trafen von Andreas Malessa
Der Autor Andreas Malessa hat uns gestattet, seinen Text aus dem Fastenlesebuch 2024 „Komm rüber! Sieben Wochen ohne Alleingänge" zur 5. Fastenwoche über die Apostelgeschichte 16,9 hier zu veröffentlichen.
Vielen lieben Dank und viel Spaß beim Lesen!
Bevor sie Lydia trafen
Paulus, langsam treppab: „Morgen!“
Silas am Tisch nickt mit vollem Mund:“Morgmpff.“
Lukas, ihm gegenüber, blättert in der Naturalis Historia von Plinius Maior.
Paulus: „Ich hatte heute Nacht eine Erscheinung.“
Silas: “So wie Du läufst war`s eher eine Alterserscheinung. Hüfte? Rücken?“
Lukas, versonnen aufblickend: “Ist ja irre: Hier an der ägäischen Küste werden Purpurschnecken gefangen, deren weißliches Drüsensekret man in Salz tagelang erhitzt, bis es grünlich scheint. Erst bei Luftzufuhr und Lichteinfall wird es purpurrot, so dass man Wolle oder Seide damit färben kann.“
Paulus: „Ein Mazedonier sagte: Komm herüber und hilf uns.“
Silas: “Woher willst Du wissen, dass es ein Mazedonier war?“
Paulus: „Kreisrundes Hütchen auf dem Kopf, weißes Hemd unter geknöpfter roter Weste, cremefarbene Pluderhose…“
Lukas, lesend: “Um ein Kilo Stoff zu färben, muss man etwa 8000 Purpurschnecken zerquetschen. Wahnsinn.“
Paulus, laut, energisch: „Hört mir mal jemand zu?!!“
Lukas: “Entschuldige. Du sagtest was von einem Europäer in roter Weste.“
Paulus: “Komm herüber und hilf uns, hat er gesagt, der…der Fremde da.“
Silas: „Was meint Dein Traummann damit? Hilf uns – wobei? Unabhängig werden von Rom? Jesusgläubig werden? Wie käme er drauf? Er kennt ja nix vom Glauben, der Durchschnittsmazedonier da oben.“
Lukas, wieder laut lesend: „Das noch nicht enzymreagierte Schneckensekret wird in Fässern vom Hafen Troas aus ins europäische Philippi verschifft. Dort verarbeitet, veredelt und verkauft man Purpurstoffe.“
Silas: „Typisch! Wir hier im kleinasiatischen Süden liefern die Rohstoffe und
die Europäer machen Luxustextilien draus und sacken den Profit ein.“
Paulus: „Ist das jetzt unser Thema?! Lieferketten? Marktmechanismen?!“
Lukas klappt das Naturkundebuch zu: „Philippi ist eine Steueroase!“
Silas hat sein morgendliches Ientaculum beendet – Mehlbrei mit Trauben und Datteln – und räumt den Tisch ab: “Nach der Seeschlacht von Actium hat Kaiser Augustus doch die entmachteten Militärs seines Vorgängers nach Mazedonien verbannt. Um sie ruhig zu stellen, hat er ihnen Abgabenfreiheit garantiert.
Da wohnen reiche alte Säcke in Philippi, sag ich Dir! Und ihre Töchter tragen Purpurschals um Schultern.“
Paulus: „Schluss jetzt! Frag´ mal, ob so ein Textilfarben-Frachter auch Passagiere mitnimmt. Jesus ruft uns nach Europa, glaube ich.“
Silas: „Fällt mir im Traum nicht ein.“
Paulus: „Dir nicht, aber mir. Warum sollte er uns nicht durch einen mazedonischen Ungläubigen rufen können?“
Lukas greift sich einen Reiseführer vom Fenstersims. Titel „Koscher reisen“.
Er blättert: „In Philippi gibt`s nicht mal `ne Synagoge.“
Paulus: „Na und? Dann predigen wir halt diesmal open air.“
Lukas: „Selbst wenn`s nur kleine Gebetsreffen gäbe, müssten ja zehn Männer dabei sein. Also, wenn sie thora-korrekt sein wollen, die Mazedonier.“
Paulus, wieder energisch und zu laut: „Und wenn ich in einem Wäscheladen oder nur zu Frauen predige – wir reisen ab! Ab nach Europa.“
Silas: „Zu wohlhabenden Pensionären und wendigen Geschäftsfrauen, toll!“
Lukas kommt, die Naturalis Historia und den jüdischen Reiseführer unterm Arm, hinter dem Frühstückstisch hervor: „Traumhaft. Missionare aus dem armen Süden bringen den Profiteuren im Norden das Evangelium. Vielleicht ist Paulus´ Traum-Mazedonier ja eine Traumfrau in Rot. Wäre `ne schöne Überraschung für meine Apostelgeschichte. Nimmst Du bitte genügend Papyrusrollen mit, Silas?“